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Thesen zum Dialektik-Text von F. O. Wolf

U. Weiß: Thesen zu Frieder Otto Wolf, Marx’ Konzept der ‘Grenzen der dialektischen Darstellung’[1]

Für unsere WaK-Diskussion, in der wir uns methodisch auch an Hegel anlehnen, erscheinen mir die hier besprochenen Grenzen der dialektischen Darstellung im Marx‘ Forschungs- und Darstellungsmethode relevant. Dies obwohl es uns gerade nicht um die Konstitution und die dialektische Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise geht, sondern um deren Aufhebung durch eine andere Form der Vergesellschaftung. Analogien, also äußere Bezogenheiten, beweisen zwar noch nichts, doch als heuristisches Mittel kann ein Verständnis für die Grenzen dialektischer Darstellung neue Sichten auf unseren Gegenstand, die eigene widersprüchliche Existenz eingeschlossen, eröffnen.

Das entstehen etwa der Lohnarbeit, also der Herausbildung entsprechender menschlicher Fähigkeiten und Mentalitäten, wird von Marx als ein Produkt einer theoretisch fassbaren Geschichte angesehen, einer Weltgeschichte der Herausbildung entsprechender Anlagen lebendiger Individuen, deren individuelle und kollektive Reproduktion durch Fortpflanzung sowie Bildung und Erziehung angesehen. Was der dialektischen (von Marx auch verwandt: logischen, systematischen) Darstellung kapitalistischer Produktionsweise, aus denen heraus Lohnarbeit nicht notwendig entsteht, nicht zugänglich ist (so auch die Entwicklung von Gold zu Geld), das greift Marx als „kontingente konkrete empirischen oder historischen Tatsachen in Form von Beschreibungen oder Erzählungen“[2] auf. Dies baut er dann in die dialektische Darstellung der auf ihrer eigenen Grundlage (mit der Voraussetzung der Lohnarbeit) sich reproduzierenden kapitalistischen Produktionsweise ein.

Ein zentraler Punkt unserer Suche nach Wegen in eine Gesellschaft allgemeinmenschlicher Emanzipation ist das Entstehen freier schöpferischer Tätigkeit als Bedürfnis gesellschaftlicher Individuen und zugleich als materielle Grundlage dieser Gesellschaft. In Analogie zur Marxschen Methode zur Darstellung des Entstehens von Lohnarbeit könnte das folgendes bedeuten:

Erstens: Das Entstehen einer entsprechenden freien nichtwarenförmiger Tätigkeit muss und kann nicht als logische Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise begriffen werden.

Zweitens: Die Herausbildung entsprechender menschlicher Fähigkeiten kann nur als Ergebnis eines weltgeschichtlichen Prozesses verstanden werden, die als Ereignisgeschichte zu fassen ist.

Drittens: Damit ergäbe sich auch ein bestimmter (beschränkter) Sinn des im WaK-Kreis öfter bemühten Gedanken, dass Kommunistisches in aller Geschichte sei. „Beschränkt“ bedeutet hier: Es geht um solche Formen von Lebenstätigkeiten, die wie die menschliche Reproduktion zwar aller menschlichen Existenz und allen Produktionsweisen vorausgesetzt und eigen sind, die aber in ihren potentiellen inneren Logiken keine logisch konstituierenden Elemente dieser Produktionsweisen werden können. Ihrerseits sind sie an das Funktionieren dieser Produktionsweise gebunden (ist dies für die menschliche Reproduktion nicht mehr hinreichend gegeben, bricht diese Produktionsweise zusammen) insofern sie ihr unverzichtbare Lebensmitteln- bzw. Bedingungen sichert. Die Zwecke dieser Produktionsweisen sind gegenüber diesen Lebenstätigkeiten äußerliche, eben einer anderen Logik unterworfen.

Viertens: Befreit von solcher Unterordnung unter äußerliche Zwänge hätten diese Lebenstätigkeiten die Potenz, eine neue Form von Vergesellschaftung zu begründen. Es wäre dann sozusagen längst Vorhandenes, das geschichtsbestimmend würde und zwar indem es gemäß den dann entfalteten eigenen Logiken eine neue Form der Vergesellschaftung setzt. Die Herausbildung einer neuen Produktions- und Lebensweise wäre dann nur als Freisetzung dieser längst vorhandenen Elementen aus ihrer Unterordnung unter äußerliche Zwecke zu verstehen.   Fünftens: In Bezug auf eine solche Produktionsweise, die in die Lebenstätigkeit eingebunden und dadurch bestimment wird (und nicht umgekehrt wie in der bisherigen Geschichte) kann die freie schöpferische Tätigkeit und ihre beständige Reproduktion dann auch dialektisch dargestellt werden. Sie ergibt sich aber weder in der Praxis noch in der Theorie als logische Konsequenz eines wahren Kapitalismusbegriffs.

Sechstens: Im Begriff Kapitalismus, so wird in der WaK-Diskussion öfter behauptet, sei dessen Aufhebung nicht nur im Sinne des Entstehens letztlich existenzbedrohender Antinomien eingeschlossen, sondern auch als ein positives Setzen einer neuen Vergesellschaftung. Genau das erscheint mir nach o.g. Aussagen als eine solche Art Hegelscher Begriffsentfaltung, die ihre Grenzen nicht kennt und auf die auch Marx‘ Hegelkritik zutrifft: Eine theoretische Akkomodation ans Gegebene.

Siebtens: Dafür, dass in dieser Weise solch immer schon vorhandenes „Kommunistisches“ tatsächliche geschichtsmächtig werden kann, sind allerdings gesellschaftliche Voraussetzungen erforderlich, die dieses Handeln selbst nicht konstituieren konnte – so ein bestimmbares Produktivitätsniveau menschlicher Arbeit. Diese muss ein Niveau erreicht haben, auf dem schöpferische Tätigkeit zum ersten Lebensbedürfnis der Individuen und zugleich zu einer Kraft werden kann, die die Gesellschaft materiell zu tragen vermag. Global gesehen kann eine solche Produktivität erst mit der kapitalistischen Produktionsweise entstehen. Wie der Kapitalismus kein lässlicher Irrtum der Geschichte und eine Gesellschaft der allgemeinmenschlichen Emanzipation ohne dessen zivilisatorischen Errungenschaften praktisch nicht realisierbar und zugleich nicht denkbar ist, so ist – ausgehend von dieser konkreten Uopie – auch ein tief erfasster Kapitalismusbegriff diese Voraussetzung einer neuen Gesellschaft geistig antizipieren zu können.

Achtens: Gestützt auf die entsprechenden historischen Voraussetzungen kann freie schöpferische Tätigkeit sich diese dann unterordnen und in der ihr gemäßen sozialen Form die materiellen Existenzbedingungen hervorbringen, damit eine neue Gesellschaft begründen. In Analogie zur systematischen Darstellbarkeit der Lohnarbeit in einer einmal etablierten kapitalistischen Produktionsweise wird verständlich: Erst auf dieser Basis kann dann auch die freie schöpferische Tätigkeit dialektisch dargestellt werden – sozusagen auf ihrer eigenen Grundlage als beständig sich reproduzierendes Element der neuen Vergesellschaftungsform. Das vorhergehende historische Setzten dieser Tätigkeit jedoch ergibt sich nicht als logische Konsequenz des Kapitalismusbegriffs. Es ist damit auch praktisch unmöglich, solche Tätigkeiten und ihr entsprechenden soziale Räume mittels der Kategorien der Warenproduktion, der Staatlichkeit, unvermeidbar damit verbundener avantgardistischer Theorien zu begründen oder zu fördern. Eine solche Vergesellschaftung ist nur als gesellschaftliche Tat der schöpferisch frei tätigen Individuen möglich, die sich von vornherein jenseits der Wert-, Staats- und Ideologieförmigkeit assoziieren. Sie wird in dem Maße Realität wie die Individuen in dieser Form auch die Bedingungen ihrer materiellen Existenz schaffen.

Worin bestünde die Aufgabe einer diese Entwicklung antizipierenden Theorie?

A) Eine hypothetische Vorstellung der Formen von Vergesellschaftung entwickeln, in der schöpferische Individuen in freier Tätigkeiten sich und ihre sozialen Strukturen reproduzieren können. Es geht dabei um materielle Voraussetzungen für die Konstitution einer freien Gesellschaft und darin eingebunden die menschlichen Fähigkeiten, Mentalitäten.

B) Ausgehend von diesem notwendig utopischen Entwurf einer Gesellschaft allgemeinmenschlicher Emanzipation und der sie tragenden Individuen ausgehend die sich logisch ergebende Voraussetzungen ihrer Konstitution bestimmen.

C) Ausgerüstet mit diesen noch immer hypothetischen Annahmen Gegenwart und Geschichte durchforsten: Sind reale Bedingungen für eine solche neue Form der Vergesellschaftung vorhanden oder im Entstehen? In welchen sozialen Räumen und Bewegungsformen konstituieren sie sich? In Bezug auf Geschichte und Gegenwart: Die Zusammenhänge und Widersprüche zwischen solchen potentiell kommunistischen (nichtwert- und nichtwarenförmigen) Tätigkeiten und Denkweisen und den jeweils dominierenden Logiken heutigen Produktions- und Lebensweisen sind zu erkennen und in ihren möglichen Entwicklungen zu bestimmen.

D) Dies alles ist in den Widersprüchlichkeiten der Individuen, die der Theoretiker eingeschlossen, darzustellen.

Anmerkungen

[1] Dieser Text vertieft die Untersuchung von Wolf 2004.

[2] Frieder Otto Wolf, Marx’ Konzept der ‘Grenzen der dialektischen Darstellung’, http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/FOW_Grenzen.pdf