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Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie und die Linke heute

So lautet der Titel einer Broschüre [1] in der Reihe »Pankower Vorträge«, die von der »Hellen Panke« [2] herausgegeben wird. In dem 83-seitigen Heft werden Beiträge eines Workshops von 2008 zusammen gefasst. Leider stehen die Texte nicht online zur Verfügung, alles durch Copyright verriegelt. Das Heft kostet 3 Euro, aber wer kommt da schon ran.

Um das Fazit vorzugreifen: Wer den Heft-Titel ernst nimmt und erhellende neue Einsichten erwartet, wird weitgehend enttäuscht. Manche Überschriften der Beiträge klingen durchaus interessant, aber sie halten dann meist nicht, was sie andeuten. Ich gehe die Artikel mal im Schnelllauf durch. Danach bespreche ich einen Artikel von Michael Brie ausführlicher.

Frieder Otto Wolf: Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie sowie Epistemologie und Praxeologie seiner Theorie. Der philosophische unter den Beiträgen. Ein Plädoyer ausgehend vom »marxschen Durchbruch« im Bereich der Ökonomie zu einer »wirklichen Wissenschaft auf den Feldern von Geschichte und Gesellschaft« zu gelangen. Nur nicht so wie früher im kanonischen ML, sondern durch »konkrete Forschungen«. Gleichzeitig Warnung davor, ein philosophisches System bauen zu wollen wie Hegel es tat.

Sabine Nuss / Anne Steckner: Zur aktuellen Renaissance der Kapital-Lektüre. Plädoyer für »verschiedene Lesarten« bei der Kapital-Rezeption.

Rolf Hecker: Einige Bemerkungen zu Marx‘ Analyse der Produktivkräfte. Plädoyer, den Begriff des »Gesamtarbeiters« an die Stelle von »Arbeiterklasse« zu setzen, aber sonst alles beim Alten zu lassen.

Rudolf Mondelaers / Wolfgang Hahn: Formelle und reelle Subsumtion – ein vernachlässigter Ansatz für moderne Kapitalismusanalyse. Zitat: »Jede Produktionsweise bedarf eines Disziplinarregimes, welches die Produzenten veranlasst, sich so zu verhalten, dass dadurch die gesellschaftliche Reproduktion garantiert wird«. Das ist es wieder, das »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«. Sonst im Artikel der Versuch, den Begriff der »Subsumtion« auf verschiedene Verhältnisse anzuwenden: Kredit, Lohn, Kapital, Konsumtion. Unterordnung unter die abstrakte Logik des Kapitalismus — die Idee ist nicht schlecht. Am Ende kommt aber nur raus: Grundeinkommen für Alle — plus Stiefeltritt vom Anfang des Artikels.

Jürgen Leibiger: Stabilisierungspolitik mit Marx? Marx »für die Entwicklung alternativer Wirtschaftsstrategien heranziehen«. Die Kritik der politischen Ökonomie als affirmative Politische Ökonomie umgedeutet.

Michael Brie: Bildungselemente einer neuen Gesellschaft in Marx‘ Kapital. Blendungseffekte im Verhältnis von Kapitalismusanalyse und kommunistischer Prognose. Der interessanteste Artikel im Heft, deswegen unten ausführlicher behandelt.

Judith Dellheim: Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie als Bedingung für linke Wirtschaftspolitik heute. Der explizite Versuch, »Wirtschaftspolitik auf der Basis marxscher politischer Ökonomie« zu entwickeln, die am Ende zur »’Kunst‘ sozialistischer Wirtschaftspolitikerinnen und Wirtschaftspolitiker« erklärt wird. Siehe Leibiger oben.

Izumi Omura: Die Bedeutung der MEGA-Edition des Zweiten Bandes des Kapital. Engels‘ Redaktion und Druckfassung (Bände II/12, 13). Bericht über den Stand der MEGA-Edition.

Christopf Lieber: Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie – (noch) Schlüssel für die Ideologie- und Bewusstseinstheorie der Linken heute? Versuch von der gesellschaftlichen Analyseebene etwas über die »Grundstrukturen des ‚ökonomischen Werkelalltags‘ der Individuen« zu sagen. Fetischismus bei Marx wird als Bewusstseinsanalyse missverstanden. Marx habe mit dem Fetischismus »den Brückenschlag von Alltagsreligion und Handlungsmotivation ökonomiekritisch eingeholt«. Die Krise der neoliberalen Ideologie sei die Chance, dass die »gesellschaftlichen Träger der lebendigen Arbeit die verselbständigten Verhältnisse und die Resultate des Produktionsprozesses als ihre ‚eigenen‘ Produkte ‚erkennen’«.

Günter Krause: Marx‘ Konzept der Vulgärökonomie – verwendbar für die Linke heute? Eine rhetorische Frage zur Rechtfertigung vulgärökonomisch basierter sozialistischer Wirtschaftspolitik — natürlich das alles ganz »kritisch« und so.

Michael R. Krätke: Kritische Ökonomie und Kritik der politischen Ökonomie heute. Kritik der politischen Ökonomie hier als Wissenschaftstheorie verstanden. Die »Neue Marx-Lektüre« wird gebasht, sie leiste »weniger als nichts«, alles olle Kamellen, so der Autor. Was bleibt ist der Aufruf, den Autor bei der Kritik anderer bürgerlicher Ansätze »politischer Ökonomie« zu unterstützen, die heute die einzig (wissenschafts-)relevanten seien.

Nun noch mal zurück zu Michael Brie. Er setzt sich drei Ziele, erstens die Veraussetzungen »kapitalismusüberwindender Politik« abzuleiten, zweitens auf Marx‘ »drei aufeinander bezogene Vorstellungen von Sozialismus/Kommunismus« hinzuweisen, drittens die »Elemente einer pluralen nachkapitalistischen Entwicklungsweise moderner Gesellschaften« zu skizzieren. In unserem Diskussionszusammenhang ist der zweite Punkt interessant, mit dem wir uns auch kürzlich in einer Veranstaltung [3] beschäftigten.

Brie bringt — das ist selten anzutreffen — die »Herstellung des Gemeineigentums an den Produktionsmittel und die Umwälzung der technologischen Produktionsweise und Subjektivität bis hin zum Primat freier kultureller Entwicklung« (44) miteinander in Verbindung. Brie »erscheint die Selbstverwaltung der Produzenten als notwendige Voraussetzung dieser neuen Kulturgesellschaft, die zugleich den Zyklus der Entwicklung von der naturwüchsig bornierten gemeinschaftlichen Produktion über die Produktion des abstrakten Reichtums in der kapitalistischen Warenproduktion hin zu einer freien Gesellschaftlichkeit abschließt« (46) — und formuliert dann drei »offene Fragen«.

Erste Frage ist die nach der Rolle »institutioneller Vermittlung«. Brie behauptet:

Sein [Marx‘] Anspruch, die kapitalistischen Formen der Vermittlung gesellschaftlicher Widersprüche revolutionär zu beseitigen, gerät zur Forderung, jede Vermittlung gesellschaftlicher Widersprüche überhaupt überflüssig zu machen. Dies ist aber nur möglich, wenn Individuelles und Gesellschaftliches unmittelbar in eins fallen. Seine Utopie kommunistischer Unmittelbarkeit verwandelt sich aber zu Ende gedacht in die Illusion eines Zustandes der Widerspruchsfreiheit und Vermittlungslosigkeit. Aus der radikalen Kritik der Gesellschaft wird die radikale Negation des Denkens von Gesellschaft. (47)

Ist das pure Denunziation der Marxschen Gedanken? Nein, leider ist es so, dass die kurzschlüssigen Sprünge, die Brie hier vorführt, nur zu oft tatsächlich genau so (falsch) gedacht werden. In Spiegelstrichen:

Für Brie ist Kommunismus ein Widerspruch in sich und also nicht machbar:

Der reife Kommunismus wäre ein gesellschaftsloser Zustand. Er kann nicht gedacht, geschweige denn realisiert werden. (48)

Stattdessen solle an »moderner Gesellschaft« geschraubt werden, denn mehr ist nicht drin:

Das von Marx als nicht radikal verworfene und in seinen Augen bloße illusorische Projekt einer nicht-kapitalistischen Ausrichtung der Vergesellschaftungsformen und Institutionen moderner Gesellschaft muss neu aufgenommen werden. (48)

Es ist lustig, dass hier das (Marxsche) Ziel, »nicht-kapitalistische … Vergesellschaftungsformen« zu schaffen (denn nichts anderes bedeutet Aufhebung), hier für sein Gegenteil in Anspruch genommen wird.

Zweite Frage ist die nach der Entwicklungsdynamik jeder (also auch kommunistischer) Gesellschaft. Brie:

Jede … feste Bindung von Produzenten an stoffliche konkrete Produktionsmittel … würde nur zu einer … stagnativen Produktionsweise führen. Die unmittelbare Einheit von Produzent und Eigentümer ist auch in seiner gesellschaftlichen Form zwangsläufig in Stillstand gemündet. (48)

Damit ist der Realsozialismus gemeint. Weiter apodiktisch:

In kapitalistischer Form wurde ein Innovationsmotor geschaffen, den keine gegenwärtige oder zukünftige Gesellschaft bei Strafe ihrer Rückentwicklung und ihres Untergangs wieder aufgeben kann: Es sind Unternehmen, die auf Basis von Krediten Ressourcen neu kombinieren und unter den Vorgaben von Effizienz und Innovativität im Wettbewerb zueinander stehen. (48)

Weiter:

Marxens Antikapitalismus ist sozialwissenschaftlich blind für die institutionellen Grundlagen der Dialektik von Produktivität und Ausbeutung kapitalistischer Gesellschaftten. Er weigert sich, die Möglichkeit einer zumindest analytischen Unterscheidung der Institutionen, soweit sie Produktivität und Innovation ermöglichen und soweit sie Ausbeutung, Unterdrückung und Verelendung hervorbringen, auch nur zu denken. (vgl. dazu seine Kritik an Proudon in Marx 1974a [„Das Elend der Philosophie“], 131ff.). Die Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung wurde unbewusst als ersatzlose Beseitigung der Institutionen innovativer Entwicklung konzipiert, weil … Institutionen für ihn der Ausdruck von Entfremdung und Herrschaft sind. (49)

Wieder spiegelstrichartig dazu:

Dritte Frage ist die nach der »Pluralität einer neuen Gesellschaftsordnung«. Zunächst beschreibt Brie die »Vision« von Marx sehr klar, wonach

…die freie Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums …zum Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums werden [müsse] (50)

und verweist auf die »Grundrisse« [4], dessen Vorausahnungen er im Internet bestätigt sieht:

Die Despotie der Fabrik wird immer stärker durch den Zwang zur freien Zusammenarbeit überlagert. Selbstbestimmte Nutzung und Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und Kooperationsformen einerseits und allgemeine Zugänglichkeit dieses gesellschaftlichen Potenzials als globaler virtueller Intellekt in Web 1.0 und 2.0 werden zu technologischen Imperativen weiteren Fortschritts. (50)

Mal abgesehen von der Fortschrittsgläubigkeit, die nicht wirklich zu den tatsächlichen ökologischen und sozialen Verheerungen des Kapitalismus passt, ist das eine realistische Einschätzung. Was folgt für Brie daraus?

Die Antwort darauf ist aber nicht der Übergang zu einer einzigen Produktionsform und zu einem einzigen dominierenden Eigentumstyp, sondern der Kampf zwischen den Versuchen, auch diese neuen Möglichkeiten privatkapitalistischer Aneignung und Profitmaximierung zu unterwerfen, und den ungeheuer vielfältigen Bestrebungen, die den neuen Möglichkeiten freier Selbstentwicklung und solidarischer Kooperation entsprechend zu gestalten. Diese zielen auf eine solidarische Wirtschaft pluraler Produktions- und Eigentumsformen. (50)

Nach einer zutreffenden Beschreibung ist der Sprung in einen pluralen Kapitalismus (da dieser genuin »plural« ist, ist die adjektive Ergänzung nur Wortgeklingel) enttäuschend. Er stellt die »Vision« der »Grundrisse« geradezu auf den Kopf. Gleichwohl werden die »neuen Möglichkeiten freier Selbstentwicklung« beachtet. Doch anstatt diese in ihrer aufhebenden Potenz weiter zu denken, werden sie nur wieder in das alte Verwertungsschema »plural« eingebettet. Ein Denk-Hinderungsgrund ist dabei sicher die alte Art und Weise die »Eigentumsfrage« zu dichotomisieren: privat vs. staatlich. Dass sich etwa die commonsbasierte Peer-Produktion wie etwa die Freie Software diesen Schemata entzieht, liegt außerhalb des Bekannten und Denkbaren.

Pathetisch wirbt Brie für seinen pluralen Kapitalismus und nimmt dafür auch die Zapatistas in Beschlag:

Anstelle des kommunistischen Hochmuts eines neuen Turms zu Babel sollte das Bemühen treten, die Erde in einen Garten zu verwandeln, der Platz bietet für die unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens. An die Stelle der Suche nach einer Eigentumsform, einer Produktionsweise, einer Lebensweise und einer Gestalt von Demokratie muss das Streben für eine neue Vielfalt treten, denn  ansonsten „wird uns die neue Welt quadratisch geraten und sich nicht drehen und bewegen“ (EZLN 1994) (50)

Brie versteht es, eine sympathisch-moderne Sprache zu sprechen — leider doch nur für die alten Inhalte. Aber die Ironie der Geschichte könnte darin bestehen, dass ein »in Politik umgesetzter Brie« den neuen Formen der »commonsbasierten Produktion« tatsächlich mehr Raum verschafft als dies bisher möglich ist. Wenn schon Politik, dann ist das das Sinnvolle, was die LINKE leisten kann.

Fazit

Mit der gesellschaftlichen Vermittlung, der Entwicklungsdynamik und neuer Produktionsformen stellt Brie die richtigen Fragen, Fragen zu denen andere LINKE (ich meine die Partei und ihr Umfeld) sonst in der Regel nicht vorstoßen. Die Antworten sind gleichwohl wieder völlig parteikompatibel. Um dies zu erreichen, behandelt er Marx nicht als Säulenheiligen (auch das ist erfrischend), sondern widerspricht ihm explizit — leider nur in einer Kapitalismus affirmativen Richtung.

Er unterstellt Marx sich zu weigern das Problem gesellschaftlicher Vermittlung zu denken, um dann zu erklären, man könne sie nur wie in einer »modernen Gesellschaft« (aka: Kapitalismus) denken. Er fordert eine abstrakte Effizienz- und Innovationslogik ein und stellt fest, dass es sie nur im Kapitalismus gibt. Dass genau diese Logik »die Erde und den Arbeiter« (K. Marx, Das Kapital, S. 530) untergräbt, ist wohl Schicksal, oder eben durch »Politik« zu korrigieren.