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Mentale Modelle — ein zweiter Beitrag

Von Annette Schlemm

[Kopie aus opentheory.org inkl. der Diskussion]

(1) Das Konzept der mentalen Modelle erhält seine Bedeutung nicht zuletzt von seiner Herkunft und seiner Beziehung zu anderen Konzepten. Die Verwendung des Konzepts in anderen Bereichen muss darauf Rücksicht nehmen. Bis jetzt ist das Konzept der mentalen Modelle noch nicht einmal in der Wissenschaftstheorie für die Naturwissenschaften ein allgemein anerkanntes Konzept. Bei der Übertragung in den Bereich der Gesellschaftswissenschaft ist genau auszuarbeiten, wie deren Spezifik sich für das Konzept auswirkt.

(2) Das Konzept der mentalen Modelle ist nicht nur irgend ein Modell, sondern es ist vor allem wichtig für die Diskussion der Übergänge zwischen Theorien. Es ist deshalb eng verwandt mit dem Konzept der Paradigmen nach Thomas S. Kuhn.

Paradigmen

(3) Unter Paradigmen versteht Kuhn „anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern.“ (Kuhn 1999: 10). Der Begriff trägt in sich nicht nur die Feststellung, dass es vorbildhafte Konzepte gibt, sondern ist vor allem deshalb bedeutend, weil er sich gegen jene Auffassungen richtet, die in der Wissenschaftsgeschichte eine fortschreitende Kumulation von immer angemessenerem Wissen über die Welt sehen. Kuhn dagegen betont das „offenbar willkürliche Element, das sich aus zufälligen persönlichen und historischen Umständen zusammensetzt“ als „ein formgebender Bestandteil der Überzeugungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft in einer bestimmten Zeit angenommen wird.“ (ebd.: 19) Die Wissenschaftsgeschichte ist nach Kuhn durch die Aufeinanderfolge von Phasen sog. „normaler Wissenschaft“, in der vor allem Fakten innerhalb des gerade gegebenen Paradigmas gesammelt werden und neue Phänomene eher systematisch übersehen werden, und Phasen von revolutionären Umbrüchen, in denen vor allem die Paradigmen ausgewechselt werden und dadurch ganz neue Fakten in den Blick geraten bzw. geschaffen werden. In das Paradigma gehen die „Erfahrungen des Menschengeschlechtes, der … betreffenden Kultur und schließlich der Fachwissenschaft“ (ebd.: 139) ein.

(4) Kuhn spricht von der „Inkommensurabilität konkurrierender Paradigma“ (ebd.: 161) und gibt zu bedenken, dass eine veraltete Theorie zwar als Spezialfall der moderneren Nachfolgerin angesehen werden kann, aber er verweist darauf, dass sich dabei fundamentale Strukturelemente verändern. Wissenschaftliche Revolutionen im Sinne eines Paradigmenwechsels wandeln auch das Weltbild, denn Paradigmen bestimmen auch, „welche Entitäten es in der Natur gibt und welche nicht, und wie sie sich verhalten“ (ebd.: 121). Das betrifft natürlich nicht die objektiv-reale Welt, aber „wenn auch die Welt mit dem Wechsel eines Paradigmas nicht wechselt, so arbeitet doch der Wissenschaftler danach in einer anderen Welt“ (ebd.: 133). Wenn die Theorien nicht in einer korrespondenzartigen Beziehung stehen, sondern inkommensurabel sind, steht der Fortschritt der Wissenschaftsentwicklung in Frage. Kuhn selbst meint: „Bei wissenschaftlichen Revolutionen gibt es Verlust und Gewinn, und Wissenschaftler neigen dazu, gegenüber dem Verlust besonders blind zu sein.“ (ebd.: 178) Einen roten Faden haben die einander abwechselnden Paradigmen aber doch: sie bewahren „eine große Zahl der konkretesten Bestandteile vergangener Leistungen“ und gestatten „immer zusätzliche Problemlösungen“ (ebd.: 181). Was Kuhn auf jeden Fall vermeiden möchte, ist aber eine Bezugnahme auf die „reale“ Natur. Fortschritt in der Wissenschaft kann Verbesserungen in Problemlösungen bedeuten – aber es lässt sich nach Kuhn nicht behaupten, dass Wissenschaft „eine bessere Darstellung dessen sei, was die Natur wirklich ist“ (ebd.: 217).

(5) Für die reale Wissenschaftsentwicklung betont Jürgen Renn, dass unter den vielen Versuchen, die Spezielle Relativitätstheorie weiter zu entwickeln, sich der Einsteins Versuch gerade deshalb als erfolgreich erwies, weil er auf die Weitergeltung des Galileischen Trägheitsgesetzes (auch als 1. Newtonsches Axiom bekannt) – also eine ganz deutliche Korrespondenz zur klassischen Mechanik – setzte. Dass er sich gegen andere Versuche durchsetzte, lässt sich nicht durch außerwissenschaftliche Machtkämpfe begründen, sondern nach wie vor kann wissenschaftlich keine der damals konkurrierenden Ansätze erfolgreich in eine gültige Theorie umgesetzt werden. Es muss also doch etwas dran sein, dass es nicht nur beliebige Paradigmen und beliebige Ansätze gibt, unter denen dann durch Konkurrenzkampf der Wissenschaftsgemeinden irgendwann machtgestützte Entscheidungen fallen, sondern dass die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Theorien (und ihren Beziehungen zu den Vorläufern) etwas mit den Aussagen zu tun haben, die ihre Anwendung auf die Wirklichkeit hervorbringen.

Mentale Modelle und Paradigmen

(6) In Form von mentalen Modellen werden Momente der Wissenschaft erfasst, die in gewissem Sinne paradigmatisch sind. Mentale Modelle unterscheiden sich aber auch von Paradigmen:

* Mentale Modelle sind eher „kleinteiliger“ als die Paradigmen nach Kuhn. Es sind konkrete Vorstellungen im Rahmen der jeweiligen Theorien, nicht ganze Weltbilder.
* Während das Paradigmen-Konzept die Diskontinuität in der Wissenschaftsentwicklung (über-)betont, bemüht sich das Konzept der mentalen Modelle um ein genaueres Verständnis der Übergänge selbst.
* Das Konzept der mentalen Modelle versucht das Moment der Willkür zu negieren. Wenn ein mentales Modell durch ein anderes ersetzt wird, so hat das mit langen Erfahrungen der Menschen mit der Wirklichkeit zu tun. Dies wird für entscheidende Phasen der Wissenschaftsentwicklung auch aufgezeigt.

(6.1) Re: Mentale Modelle und Paradigmen, 05.12.2006, 20:52, Wolf Göhring: Ist das konzept der mentalen modelle ein paradigma oder ein mentales modell – oder was?

(6.1.1) Re: Mentale Modelle und Paradigmen, 07.12.2006, 17:13, Annette Schlemm: Es ist ein „wissenschaftliche Erkenntnismoment“ wie auch weitere aufgezählt sind im Text http://www.opentheory.org/kf_wissensch_theorie/text.phtml unter Punkt 6ff.

Mentale Modelle in der Wahrnehmungspsychologie

(7) Der Begriff „mentales Modell“ erklärt in der Wahrnehmungspsychologie die „Umsetzung des Reizes in einen Zusammenhang“. Es entstehen dabei „logische Verknüpfungen, kurze Bilder und Filme aus Erinnerungen und Erfahrungen die vor dem geistigen Auge des Wahrnehmenden aufgebaut werden, um so eine Repräsentation der für die Realität relevanten Aspekte und ihrer dynamischen Wechselwirkungen im Gehirn zu schaffen.“ (Wikipedia) Wichtige Merkmale derartiger Modelle sind:

* Kontextabhängigkeit,
* Einfluss der Erfahrung,
* Filtereffekte und
* Bewertung.

Dieses Konzept wurde von Kenneth Craik aufgenommen und in eine umfassende Theorie des Denkens umgewandelt (vgl. Johnson-Laird, Byrne 2000).

Mentale Modelle in der Naturwissenschaftsgeschichte

(8) Jürgen Renn fand, dass derartige zusammenhängende vorstellungsartige Momente in der Wissenschaftsgeschichte ebenfalls eine große Rolle spielen. Ein mentales Modell ist demnach „eine bestimmte Form der Repräsentation von Wissen […], die besonders geeignet ist, Schlussfolgerungen und deren Veränderungen zu erfassen, die auf unvollständigen Informationen beruhen“ (Renn 2006: 43). Mit ihnen lassen sich „auch implizite Schlußfolgerungen erfassen, die in der Handlungslogik von Praktiken verkörpert sind und keine explizite Darstellung in sprachlicher oder schriftlicher Form besitzen“ (ebd.). Innerhalb einer Wissenschaftstheorie können mentale Modelle also Bindeglieder zwischen der Alltagserfahrung und dem wissenschaftlichen Arbeiten, bei dem wissenschaftliche Erfahrung auf spezifische Weise organisiert wird, darstellen.

(9) Insgesamt nennt Renn folgende Charakteristika von mentalen Modellen (ebd.: 43):

* Sie sind eine Form der Repräsentation von Wissen, die besonders geeignet ist, Schlussfolgerungen und deren Veränderungen zu erfassen, die auf unvollständigen Informationen beruhen.
* Sie sind kontext-spezifisch und nicht universell gültig.
* Sie sind an neue Erfahrungen adaptierbar.
* Sie verknüpfen gegenwärtige mit vergangenen Erfahrungen.
* Sie sind ein Bindeglied zwischen praktischem Handlungswissen und theoretischem Wissen.
* Sie ermöglichen implizite Schlussfolgerungen aus praktischem Handlungswissen, die keine explizite Darstellung besitzen.
* Sie sind eine Anwendung nichtmonotoner Logik (mit zusätzlichen Informationen können sich die Schlüsse verändern, siehe dazu unten).

(10) Für die aristotelische Physik können folgende mentalen Modelle genannt werden:

* „Bewegung-impliziert-Kraft-Modell“ erklärt die „erzwungenen Bewegungen“
* „Schwere-erzeugt-Fall-Modell“ erklärt die „natürlichen Bewegungen“ (ebd.: 320)

(11) Als Beispiele für mentale Modelle können wohl auch bildliche Vorstellungen über die Welt und ihre Teile gelten (Quelle: Hawking 2001, S. 229):

* Schildkrötenuniversum
* Rutherfords Atom
* Wurmloch-Modell

(12) Mentale Modelle stabilisieren zwar einerseits eine bestimmte Weise der Wissenschaft, gleichzeitig gilt es als Zeichen der Entwicklungskrise für eine wissenschaftliche Theorie, wenn immer mehr neue Erfahrungen bzw. Überlegungen mit dem bisher vorausgesetzten mentalen Modell in Konflikte geraten. So überschreitet beispielsweise die Bewegung eines Geschoss die Trennung der bei Aristoteles vorausgesetzten Trennung der beiden Modelle. „Probleme wie das der Geschoßbewegung waren Gegenstand kritischer Diskussionen und Revisionen der aristotelischen Naturphilosophie und führten schließlich in der frühen Neuzeit zum Aufstieg der Mechanik, allerdings erst, nachdem solche Probleme eine entschiedene Herausforderung für die zeitgenössischen Praktiker und Theoretiker geworden waren.“ (ebd.)

(13) Als weiteres mentales Modell in der Physik wird der Atombegriff genannt (ebd.: 144), das Feldmodell nach Lorentz, das für Einsteins Suche nach den Feldgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie heuristisch richtungsleitend war (ebd.: 189, 232) sowie das „Eimermodell“, das von Newton ausgehend von Ernst Mach verwendet wurde, um Newtons absoluten Raum in Frage zu stellen (ebd.: 215).

(14) Interessanterweise ist es oft die Verknüpfung vorher getrennter mentaler Modelle, die das wissenschaftliche Denken voranbringt. Das Äquivalenzprinzip der Allgemeinen Relativitätstheorie vereinigt das mentale Modell „Im frei fallenden Aufzug wirken Trägheitskräfte“ und das mentale Modell „Im ruhenden Aufzug wirken Schwerkräfte“. Aufgrund der Nichtunterscheidbarkeit der Bewegungsweise der Bezugssysteme werden Trägheitskräfte und Schwerkräfte äquivalent, was auch der bereits bekannten numerischen Gleichheit von träger und schwerer Masse entspricht. Mentale Modelle erfassen in modellhaft-intuitiver Weise wesentliche Züge bestimmter Gegenstandsbereiche und in der Entwicklung der Physik werden vorher gültige Wesensunterschiede zusammen geführt (ebd.: 208).

(15) Am Beispiel der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie zeigte Renn, inwieweit mentale Modelle quasi als Barrieren wirken, die erst grundlegend verändert werden müssen, ehe heuristische Prinzipien, neue Erfahrungen und mathematische Methoden zu neuen Theorien führen können.

Nichtmonotone Logik und mentale Modelle

(16) Die Bedeutung der mentalen Modelle erklärt sich vor allem durch ihre Rolle in der nichtmonotonen Schließweise in der wissenschaftlichen Erkenntnis. Es geht darum, neue Informationen in das Schlussfolgern einzubeziehen, nicht lediglich vorhandenes Wissen in verschiedenster Weise umzuformulieren. Eine klassische, monotone Schlussweise wäre z.B. folgende:

* Aussage 1: „Tux ist ein Vogel“
* Aussage 2: „Die meisten Vögel können fliegen“
* Schluss: „Tux kann fliegen.“

Das stimmt zwar – wenn wir jetzt aber zusätzlich erfahren, dass Tux ein Pinguin ist, erweist sich unser Schluss als falsch, denn Pinguine können nicht fliegen. Was nun? Die nichtmonotone Logik hat einen Ausweg. Die Aussage 2 wird nun als „Default-„Annahme betrachtet, die den Überlegungen zwar zugrunde gelegt wird, die unter dem Eindruck neuer Informationen aber außer Kraft gesetzt werden kann – wir ersetzen sie durch die Aussage „Pinguine wie Tux können nicht fliegen.“ (Wikipedia (nichtmonotone Logik), vgl. auch Renn 2006: 44f.).

(17) In der Wissenschaftsgeschichte zeigte sich, dass der Übergang von einem Theoriensystem zu einem anderen i.a. mit dem Wechsel der Defaultannahmen verbunden war, und um diese näher zu bestimmen, spricht Renn von „mentalen Modellen“. Die Aristotelische Physik funktioniert, solange ihre Defaultannahme (ihr mentales Modell): „Bewegung wird durch Kräfte erzeugt“ als geltend angenommen werden kann. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Bewegung von Wurfgeschossen damit nicht ausreichend erklärt werden kann. Über mehrere Jahrhunderte hinweg wird diese Frage diskutiert, bis bei Galilei schließlich diese Defaultannahme verändert: Kraft ist nicht die Bewegungsursache, sondern sie verändert lediglich den Bewegungszustand, d.h. Kraft ist nicht verbunden mit der Erzeugung einer Geschwindigkeit, sondern einer Beschleunigung. Mit dieser neuen Annahme kann dann schließlich die klassische Mechanik durch Newton geschaffen werden. Wir sehen, dass gerade diese Annahme, also dass Bewegung nicht durch Kraft erzeugt wird, sondern sozusagen als der „Normalzustand“ vorausgesetzt (und nach einer Ursache von geradlinig-gleichförmiger Bewegung nicht mehr gefragt wird), nicht gerade unserer ersten Intuition entspricht. Wir nehmen ständig wahr, dass ein sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegender Körper abbremst, dass seine weitere Bewegung einer Kraftzuführung bedarf. Aber wenn wir eine gute Physiklehrkraft hatten, wir haben gelernt, dass hier die eine bremsende Krafteinwirkung durch die Reibung zu berücksichtigen ist. Ohne diese Krafteinwirkung gilt Galileis Satz: Der Körper bewegt sich geradlinig-gleichförmig weiter. Die Vorstellungen über die Verursachung verschiedener Bewegungszustände sind derartige mentale Modelle, deren Rolle in der Wissenschaftsentwicklung fast immer nicht ausreichend genug betrachtet wird.

Wahrheitsanspruch der mentalen Modelle

(18) Während in der Diskussion der Paradigmen oft verschiedene Paradigmen als gleichermaßen gerechtfertigt neben einander gestellt werden, wird bei der Untersuchung mentaler Modelle der Übergang von vorherigen zu neueren mentalen Modellen durchaus eher als Fortschritt gesehen. (Vorausgesetzt ist hier das mentale Modell von dialektischer Entwicklung).

(19) Es wird betont, dass auf Grundlage des jeweils vorherigen mentalen Modells Probleme und Widersprüche (Problemantinomien nach Narski 1973 und Röseberg 1984) entstehen, die erst nach dem Übergang zu neuen Theorien auf Grundlage neuer mentaler Modelle gelöst werden konnten. Dass dies so ist, wird nicht durch die Behauptung einer „unverrückbaren Wahrheit“ (Bärmann 2006) gerechtfertigt, sondern damit, dass unserem Erkenntnisbemühen durchaus eine äußere Welt, die relativ zu unseren Erkenntnisbewegungen stabiler und in sich konsistent ist, entgegen steht und zumindest Widerstand gegen beliebige Erkenntnisbilder, die sich als nicht angemessen erweisen, ausübt.

(19.1) 25.11.2006, 13:25, Benni Bärmann: Ich zitiere mal den kompletten Absatz auf den Du Dich beziehst:
„Mentale Modelle“ halten daran fest, dass es eine unverrückbare „Wahrheit“ gibt, die wir zwar nur unzureichend oder garnicht erfassen können, die aber trotzdem der Bezugs- und Überprüfbarkeitspunkt ist auf den man sich immer zurückziehen kann. Demgegenüber betonen „Bedeutungswirbel“ die Konstruiertheit des Sozialen.
Ich sehe da (noch?) nicht den Widerspruch zu Deiner Formulierung.

(19.1.1) Kein Widerspruch?, 26.11.2006, 19:21, Annette Schlemm: Ich wollte klar stellen, dass das Konzept der Wahrheitsmodelle NICHT behauptet, dass es eine „unverrückbare „Wahrheit““ gibt und gleich gar nicht „daran festhält“. Wenn jemand diesen Satz bei Dir liest, bekommt er eine nicht zutreffende Vorstellung von dem, was das Konzept der „mentale Modelle“ von sich behauptet.
Tatsächlich allerdings vertritt das Konzept der „mentalen Modelle“ nicht die Vorstellung, jedes Modell wäre gleichermaßen sinnvoll und beliebig nebeneinander zu stellen.
Ich denke, es ist deshalb schon wichtig, sich auch immer konkret anzuschauen, wie die „mentalen Modelle“ (zumindest bei dem Autor, auf den ich mich beziehe, siehe Renn) konkret eingesetzt werden. Siehe z.B. Punkt (10). An diesem Beispiel wird dann auch klar, welchen Rolle mentale Modelle spielen auch im Zusammenhang mit dem Wahrheitsanspruch für wissenschaftliche Erkenntnisse, die mentale Modelle verwenden (ein Modell alleine kann eh nicht als „wahr“ oder „unwahr“ bestimmt werden).
Dieses kleine Unterkapitel ist quasi der Vermerk, dass wir genau diese Frage noch genauer klären müssen.
Deutlich wird aber, dass eine Entgegensetzung: „Entweder „unverrückbare Wahrheit“ – oder Verzicht auf Wahrheitsanspruch“ eine unfruchtbare Extremisierung wäre. Es gibt noch andere Wahrheitsvorstellungen außer der von Dir genannten „unverrückbaren Wahrheit“.
Die Wahrheit selbst wäre sowieso kein „Bezugs- und Überprüfbarkeitspunkt“, sondern Wahrheit hat was mit Bezug und Überprüfung zu tun – aber der Bezug und die Überprüfung bezieht sich auf die Wirklichkeit, in die unsere Erkennen und unser Tun eingebettet ist und auf die unser Veränderungswille hinzielt.

(19.1.1.1) Re: Kein Widerspruch?, 27.11.2006, 08:59, Benni Bärmann: Ok. Ich meinte was ganz ähnliches, wie Du. Hab es aber nicht so formuliert, das versteh ich jetzt. Hättest Du Lust an Ort und Stelle die Formulierung des Absatzes so umzubasteln, dass sie in Deinem Sinn richtig ist? Schließlich sind ja die „mentalen Modelle“ euer Ding und ich werd da immer nur rummurksen, weil ich ja grade erst versuche zu verstehen was ihr überhaupt meint.

(19.1.1.1.1) Mehr zur Wahrheit, 02.12.2006, 17:55, Annette Schlemm: Weil das auf die Schnelle nicht so recht geht hab ich mich hingesetzt und meine Erfahrungen und meine Position dazu extra aufgeschrieben: http://www.opentheory.org/kf_wahrheit/text.phtml

(19.1.1.1.1.1) Re: Mehr zur Wahrheit, 03.12.2006, 22:48, Benni Bärmann: Uff. Einen ganzen Text zu schreiben ist einfacher, als einen Satz umzuformulieren? Du überraschst mich immer wieder, Annette 😉
Ich hab jetzt einfach mal beides an Ort und Stelle verlinkt, damit das nicht verloren geht. Vielleicht kommen wir dann irgendwann auch zu einer Formulierung. Danke auf jeden Fall für die Mühe!

(19.1.1.1.1.1.1) Re: Mehr zur Wahrheit, 05.12.2006, 14:48, Annette Schlemm: Einfacher ist es wohl nicht. Aber es hilft anderen besser, meine Grundlagen zu verstehen, von denen meine Formulierung ausgeht. Im „DorfTratsch“ war die Konsequenz zu spüren, was passiert, wenn man ganz viel in einen Satz quetscht. Das Ergebnis klingt dann tatsächlich „schwülstig“ für jene, die nicht wissen, was für mich welcher verwendete Begriff bedeutet.
Und die ganze Wahrheitsfrage ist es tatsächlich wert, ausführlicher betrachtet zu werden, die Literaturstellen sind ein Hinweiszeichen darauf, dass wir da nicht von Null anfangen (für mich war es ja auch ein Lernprozess, nach der Wende das was früher einfach unter „bürgerlich“ abgetan worden war, mir anzueignen und selbst bewerten zu lernen).

(20) Auch unter Berücksichtigung der Überlegungen aus den Science Studies, die den „Zusammenhang des epistemischen Status von Wissenschaft und ihrer institutionellen Stellung in der Gesellschaft“ (Scharping 2001:9) untersuchen und davon ausgehen, dass auch das wahre Wissen sozial konstruiert ist, läuft die soziale Konstruktion nicht im luftleeren Raum ab, sondern gerade aus der Art und Weise der Konstitution von Wissen lässt sich auf die Konstituenten selbst – und damit auch die Wirklichkeit – zurück schließen (wenn auch tatsächlich keine Erkenntnis der Welt, „so wie sie ohne unsere Erkenntnis wäre“ zu erreichen ist).

Mentale Modelle in der Gesellschaftstheorie

(21) Es ist tatsächlich nicht einfach komplikationslos möglich, einen Begriff aus der Wissenschaftstheorie für Naturwissenschaften auf die Gesellschaftswissenschaften zu übertragen. Trotzdem besteht auch in der Gesellschaft das berechtigte Ziel, die objektive Veränderbarkeit zu erkunden. Das darauf orientierte Erkenntnisinteresse ist Moment der gesellschaftlichen Praxis und ihr nicht entgegen zu stellen. Gesellschaftliche Strukturen und Bewegungen sind besondere Formen, die sich nicht in reduktionistischer Weise mit rein naturwissenschaftlichen (oder allgemeinwissenschaftlichen, z.B. systemtheoretischen) Mitteln angemessen begreifen lassen.

(22) Die Besonderheit der Gesellschaftstheorie ist vor allem darin zu sehen, dass es eine Theorie über die Praxis der Menschen ist, zu denen die Erkenntnissubjekte selbst auch gehören. Eigentlich ist auch in der Naturwissenschaft der Naturwissenschaftler zugleich immer auch praktisch Tätiger (wissenschaftliche Erfahrung bedarf des praktischen Eingreifens), und sein Gegenstand ist nicht etwa ein natürliches Ding, so wie es ohne seine Einwirkung wäre sondern ist seine Praxis. Aber trotzdem ist er dann nur ein Moment des Prozesses, während in der Gesellschaftswissenschaft seine Erkenntnis unmittelbar auch selbstreflexiv auf ihn als gesellschaftliches Wesen gerichtet ist. Die Kernchemie eines Sterns kann ich als Wissenschaftlerin untersuchen, ohne meine eigene Körperchemie berücksichtigen zu müssen (ich kann die Entstehung meiner Körperatome in einer Supernova durchaus ausblenden). Die Gesellschaftlichkeit steckt jedoch immer in mir drin. Dies ist in jeder Gesellschaftsform so.

Denkformen und Mentale Modelle im Kapitalismus

(23) Zusätzlich erschwert ist die Situation in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsform. Hier begegnet den Menschen ihre Gesellschaftlichkeit als scheinbar äußere Macht. Menschen müssen ihr Leben als vereinzelte Individuen im Konkurrenzkampf gegen andere (und als Kapitalabhängige insgesamt noch gegen die Kapitalinteressen) führen, so dass ihnen ihre gesellschaftlichen Beziehungen als von außen auferlegte erscheinen. Diese Erscheinung ist einerseits so gegeben (anders als innerhalb dieser vereinzelnden Verhältnisse kann niemand leben) – andererseits verdeckt diese Erscheinung des individuellen Vereinzeltseins und der Äußerlichkeit gesellschaftlicher Beziehungen die tatsächlichen gesellschaftlichen Zwangs- und Machtverhältnisse. Es entsteht ein „notwendig falsches“ Bewusstsein. Es ist notwendig, weil es in dieser Gesellschaft angelegt ist, und jede Person sich im Verhalten anderen gegenüber danach richtet und sie tendenziell auch so denkt und „falsch“ im Sinne von „verkehrt“, weil es so nicht stimmt: Wir sind nicht wirklich Vereinzelte, denen die Gesellschaftlichkeit von außen zukommt, sondern wir bleiben auch als Individuen gesellschaftliche Wesen. Als ein Begriff für solche in sich widersprüchlichen Denkformen gibt es das Wort „Ideologien“. Diese sind dann Auffassungen, die

* eine strukturierende, grundlegende Rolle in der Gesellschaft darstellen (nicht nur „Überbau“ sind),
* das Handeln von Menschen trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Widersprüchlichkeit ermöglichen (sie ermöglichen entsprechend den entfremdeten Verhältnisse ein Verhalten, das sich den Gegebenheiten anpasst und sie für das handelnde Individuum auch rechtfertigt).

(23.1) Re: Denkformen und Mentale Modelle im Kapitalismus, 26.11.2006, 19:46, Annette Schlemm: Ich denke, dass es einerseits möglich wäre, „mentale Modelle“ nur als anderes Wort für „Denkformen“ zu verwenden, vielleicht noch mit der Unterscheidung, dass mentale Modelle auch eher emotionale Momente enthalten als das reine Denken
Nachdem ich schon länger drüber nachdenke, ziehe ich etwas anderes vor: Ich würde „Denkformen“ mit Marx als allgemeinere Bezeichnung für „gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse…“ (Marx MEW 23: 89f.) (wäre noch genauer weiter zu entwickeln…) ansehen. Diese Denkformen gelten für alle Denk- und Wissenstypen, also auch das unreflektierte Alltagsdenken.
Mentale Modelle haben zwar mit diesen Alltagsauffassungen viel zu tun, haben aber eine konkretere, präzisere Bestimmung: Sie sind jeweils die „Default-Annahmen“ innerhalb wissenschaftlicher Theorien (wie in den Naturwissenschaften jetzt auch für die Gesellschaftstheorien).
Eine der Defaultannahmen der bürgerlichen Gesellschaftstheorien ist: „Der Mensch ist eigentlich isoliert und die Gesellschaftlichkeit wird durch den Individuen äußerliche Beziehungen hergestellt.“ Unter dieser Voraussetzung kommt dann die „unsichtbare Hand“ usw. ins Spiel und die Notwendigkeit der äußerliche Regulierung über Pläne oder Kapitalinvestitionsressourcenallokationen (schönes langes Wort 😉 ). Wenn wir mit dieser Art Gesellschaftstheorien zu tun haben, sind solche Defaultannahmen nicht auf den ersten Blick entschlüsselbar, und es ist bedeutsam, sie wenigstens erst mal transparent zu machen um zu schauen, ob sie wirklich so stimmen, wie angenommen.
Auf diese Weise zeigt sich noch mal, dass die mentalen Modelle in präziserer Weise bei der konkreten Analyse (von gesellschaftswissenschaftlichen Theorien und anderen Denkformen) helfen können als das Sprechen über Paradigmen aus der Kuhnschen Paradigmenlehre (mit Paradigmen können wir trotzdem auch arbeiten, aber die mentalen Modelle sind ein zusätzliches Erkenntnismittel).

(23.1.1) Re: Denkformen und Mentale Modelle im Kapitalismus, 27.11.2006, 09:04, Benni Bärmann: Versteh ich das richtig, dass Du „mentale Modelle“ also eher auf der Wissenschaftsseite angesiedelt siehst und weniger im Alltag? Das fände ich schade, weil ich glaube, dass was wirksam ist sind ja weniger die Wissenschaftstheorien, sondern eben mehr das Alltagsverständnis. Bei unserem Thema ist es glaube ich also dann nicht so sehr eine abstrakte Vorstellung vom isolierten Individuum, sondern mehr so ein „jeder sieht wo er bleibt“, was Ausnahmen (Familie, Freunde, …) immer mit meint.
Die Theorie vom isolierten Homo oeconomicus ist ja eben gerade nicht alltagskonform. Das durchwursteln und dabei auf den eigenen Vorteil gucken aber schon. Sich nur auf wissenschaftlicher Ebene auseinanderzusetzen ist viel zu einfach, fürchte ich.

(23.1.1.1) Re: Denkformen und Mentale Modelle im Kapitalismus, 28.11.2006, 06:40, Annette Schlemm: Ich denke, irgendwo sollte aber schon ein Unterschied zwischen Alltagsdenken und wissenschaftlichem Denken bestehen und man muss ihn auch irgendwo fest machen.
Man sollte einen Begriff, der schon eine Bedeutung hat, nicht ständig neu erfinden. Das, was „mentale Modelle“ bei Renn in der Untersuchung der Entwicklung der Wissenschaft bedeuten, könnte auch in der Entwicklung von Gesellschaftstheorie fruchtbar werden. Als Bezeichnung für „irgendwas, was die Leute im Kopf haben“, gibts vielleicht andere Worte.
Auf der Berechtigung auch einer wissenschaftlichen Ebene der Betrachtung würde ich bestehen. Um die Verbindung zwischen diesen Ebenen (Alltag-, Wissenschaft-) näher zu bestimmen, muss ich auch die Ebenen selbst in sich weiter entwickeln und nicht immer nur bis ins Ununterscheidbare zusammenmauscheln.
Wir können das auch mit der Naturwissenschaft vergleichen: Einerseits haben wir eher immer noch ein „aristotelisches Gefühl“ für fallende Gegenstände (Steine fallen eben schneller als Federn), andererseits haben viele von uns sich auch schon dran gewöhnt, sich die Luft wegzudenken und sich vorstellen zu können, dass im Vakuum die Feder genau so schnell fällt wie ein Stein. Das Alltagsgefühl für Bewegung und die jeweilige wissenschaftliche Theorie dafür muss jedoch erst mal für sich untersucht werden um dann zu schauen, welche Beziehungen beides haben. Bzw. aus dem Durcheinander muss zuerst unterschieden werden und nach einer Bestimmung jeder Ebene kann dann deren Verhältnis genauer erkannt werden, was vorher zusammengemauschelt unfassbar war.

(23.1.1.1.1) Re: Denkformen und Mentale Modelle im Kapitalismus, 29.11.2006, 11:05, Benni Bärmann: Naja, die Diskussion hatte ich letztens erst mit Stefan. Ihr scheint beide immer davon auszugehen, das man erst die Dinge unterscheiden muss um sie benennen zu können. Dumm nur, wenn die Dinge sich erst durch ihre Relationen definieren. Ich denke statt dessen: Man muß immer bei beidem anfangen, bei den Verbindungen und bei den Spezifika. Steckt da bei euch nicht noch der alte Reduktionismus drinnen, der immer nach einem Anfang des Denkens sucht? Diesen Anfang gibt es nicht und kann es nicht geben. Ok, aber das ist jetzt vielleicht eine sehr abstrakte Ebene.
Ein bisschen konkreter geht es doch also gerade darum das alltägliche Wirken der Wissenschaft und die Wissenschaft des Alltags zu durchleuchten. Und das geht gerade nicht, wenn ich beides voneinander trenne und erst hinterher wieder zusammentue. Vielmehr liegt in dieser Trennung immer schon auch ein Stück Herrschaftsanspruch (so wie in jeder Trennung). Das hat doch deswegen noch nix mit (scheinbar abwertend gemeintem) „zusammenmauscheln“ zu tun.

(23.1.1.1.1.1) Re: Denkformen und Mentale Modelle im Kapitalismus, 02.12.2006, 15:28, Annette Schlemm: Es ist ja, als hättest Du inzwischen Hegel gelesen: „Man muß immer bei beidem anfangen, bei den Verbindungen und bei den Spezifika.“
Das Problem ist aber, dass wir keine „Wissenschaft des Alltags“ mehr haben und der „Alltag der Wissenschaft“ hat nichts mit dem Alltag einer Hausfrau beim Essenkochen zu tun. Wir leben nicht in einer unbestimmten Welt, in der wir durch Unterscheidungen erst die Unterscheidung, bzw. Trennung erschüfen. So etwas wie „Wissenschaft des Alltags“ ist ein spekulatives Konstrukt, das mich nicht weiter bringt.
Eine sinnvollere Einheit von Alltag und Wissenschaft könnte im „konkrete Leben von Menschen auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe“ gesehen werden und wir können dann fragen, wie sich ihr Alltagsleben und ihre wissenschaftliche Arbeit zueinander verhält. Und tatsächlich, ich setze bei der Fragestellung bereits voraus, dass es da eine Unterscheidung gibt und über die sage ich dann auch etwas. Eine Unterscheidung ist aber nicht gleich eine Trennung. Wenn Du das immer gleich in einen Topf wirfst und dann auch noch einen Herrschaftsanspruch unterstellst, geht wirklich zu viel durcheinander.

(23.1.1.1.1.1.1) Re: Denkformen und Mentale Modelle im Kapitalismus, 03.12.2006, 22:49, Benni Bärmann: Ok, Du nennst „Wissenschaft des Alltags“ ein „spekulatives Konstrukt“, ich finde das überall. „Massenintelektualität“ wäre ein vielleicht geläufigeres Schlagwort, das in die selbe Richtung geht.
Ich hab im übrigen von „alltäglichem Wirken der Wissenschaft“ geschrieben und nicht von „Alltag der Wissenschaft“, das ist doch was ganz anderes.
In einem von den Texten, die Du gerade verlinkt hast (im Wahrheits-Projekt: http://www.thur.de/philo/as237.htm ) hast Du übrigens ziemlich offen darüber gesprochen, dass für Dich Wissenschaft früher ein Mittel war den Alltag hinter Dir zu lassen. Mal ganz vorsichtig angefragt: Könnte es damit zu tun haben, dass Du jetzt so sehr auf dieser Trennung beharrst? Das würde ich verstehen.

(23.1.1.1.1.1.1.1) Re: Denkformen und Mentale Modelle im Kapitalismus, 05.12.2006, 14:52, Annette Schlemm: Ich meine: Wir leben nicht in einem Null-Raum. Wir leben in einer Welt, in der sich das, was im Alltag so gedacht wird und das, was Wissenschaft ist, bereits geschieden haben. Siehe in der Physik: Alltagsphysik: Eine Feder fällt langsamer als ein Stein. Wissenschaftliche Physik: Galileisches Fallgesetz: Unter der Bedingung, dass störende Luft- und Medieneinflüsse ausgeschaltet sind, fallen alle Körper unabhängig von ihrer Masse gleich schnell. Ich kann das auch nicht einfach wieder zusammenkleben, sondern ich kann es zusammen denken, wenn ich zusätzlich die unterschiedlichen Bedingungen dieser Weltauffassungsformen mit denke. Diese Einheit ist aber nicht einfach die Summe von beiden Aussagen.
„Wissenschaft um Alltag hinter mir zu lassen“ – nein: meinen Alltag zu bereichern. Und nur einen solchen Alltag zu leben, erschien und erscheint mir für mich lebenswert.
Und noch einmal: Eine UNTERSCHEIDUNG ist KEINE TRENNUNG !!

(23.1.1.1.1.1.1.1.1) Wissenschaftliche physik, 05.12.2006, 21:10, Wolf Göhring: Oh je, die wissenschaftliche physik waere keine, wenn sie nicht die alltagsprobleme untersuchen und somit auf alltaegliche erfahrungen und erkenntnisse zurueckgreifen wuerde. Als ein solches alltagsproblem hat sich mittlerweile auch der luftwiderstand entpuppt, der eine feder langsamer als einen stein fallen und ein wenig windschnittiges auto viel sprit saufen laesst.
Bedauerlicherweise ist so, dass man im alltag ein auto nicht im luftleeren raum rumduesen lassen kann, um „stoerende lufteinfluesse“ auszuschalten.

(23.1.1.1.1.1.1.1.1.1) Re: Wissenschaftliche physik, 07.12.2006, 17:38, Annette Schlemm: Der Bezug von Wissenschaft auf Alltag ist ja damit nicht abgerissen. Nur wird der Wissenschaftler/Ingenieur sich damit systematisch in anderer Weise beschäftigen, als beispielsweise ein Kind, das einfach mal auf allen Knöpfen herumdrückt, ohne über tieferliegende Zusammenhänge nachzudenken, und zu überprüfen, wann welche Faktoren wichtig werden und wie sie zu beeinflussen sind.
Das Beispiel mit dem Fallgesetz ist ein typischer Fall um zu zeigen, dass Wissenschaft nicht einfach nur Erscheinungen sprachlich verdoppelt, bzw. beschreibt, sondern jeweils wesentlichen und unwesentlichen Einflussfaktoren unterscheidet. Was wann wesentlich und unwesentlich ist, bestimmt sich an der konkreten Aufgabe aus dem Alltag.

(23.1.1.1.1.1.1.1.2) Weltauffassungsformen, 05.12.2006, 21:28, Wolf Göhring: Sind es wirklich unterschiedliche weltauffassungsformen, deren sich – beispielsweise – ein ingenieur befleissigt, wenn er ueber einen sparsamen automotor nachdenkt und wenn er – zehn minuten zuvor – darueber geschimpft hat, dass er mal wieder so schlecht einen parkplatz in der naehe seines wissenschaftlichen arbeitsplatzes gefunden hat?
Oder: Ist die weltaufassungsform eines sozialwissenschaftlers ueber die produktion seines laptops, der in einer fernoestlichen schwitzbude zur welt kam und an dem er ein soziologisches traktat verfasst, von der weltauffassungsform in seinem traktat wesentlich verschieden?

(23.1.1.1.1.1.1.1.2.1) Re: Weltauffassungsformen, 07.12.2006, 17:41, Annette Schlemm: Ja, es ist so, dass diese Weltauffassungsformen unterschieden (nicht getrennt) sind. Ohne Unterscheidung bliebe alles grau-in-grau, unbestimmt, ohne die Möglichkeit einer reflektierenden Distanz, die uns erst die Möglichkeit gibt, bewußt über Veränderungen nachzudenken und nicht nur im Strom des Gegebenen mitschwimmen zu müssen.
Ich unterstütze jeden Gedanken, Weltauffassungsformen – wo sie sich getrennt und zu stark unterschieden haben – auch wieder zueinander zu bringen. Aber nicht in ein ununterscheidbares Einerlei, sondern in eine höherer Komplexität, in der die Vorteile jeder Weise genutzt werden können.

(23.1.1.1.1.1.1.1.3) Unterscheidung und Trennung, 06.12.2006, 10:06, Benni Bärmann: Natürlich ist das nicht das Selbe. Aber es gibt natürlich auch keine Trennung ohne nicht vorher unterschieden zu haben. Wenn dann auch noch eine Hierarchie zur Unterscheidung hinzukommt, ist man schon ziemlich nah bei der Trennung. Das ist hier glaube ich der Fall. Eure Argumentation geht doch mehr oder weniger so: Keimformdenken ist wichtig für Keimformen, mentale Modelle sind wichtig für Keimformdenken. Wenn dann mentale Modelle als was Exklusives aus der Wissenschaftssphäre behandelt werden, ist doch schon klar, dass die Wissenschaftssphäre irgendwie wichtiger zu sein scheint für Keimformen als die Alltagssphäre. Und schon ist da eine Hierarchie und damit auch eine Trennung. Oder wo ist da mein Denkfehler?

(23.1.1.1.1.1.1.1.3.1) Hierarchie und Wissenschaft, 07.12.2006, 17:34, Annette Schlemm: Okay, dann hier zum Mitmeißeln: Ich habe den Anspruch, HIER in Opentheory, in DIESEM Projekt wissenschaftlich an die Fragestellung heranzugehen und nicht nur meinen diesbezüglichen Alltag zu leben. Ob das besser ist oder schlechter, wird damit nicht behauptet. Es ist MEIN Versuch, auch mit dem Alltagsleben besser zurecht zu kommen, weil ich mich dann besser darin zurecht finden kann. Insofern folge ich noch der altmodischen Anschauung, dass Wissenschaft nicht nur ein Macht- und Herrschaftsmittel ist, sondern ein Orientierungsmittel gerade für Menschen, die das Gegebene bewußt verändern wollen. Diese Ansicht musst Du nicht teilen.
Problematisch wird es nur, wenn daraus eine Situation wird, in der die braven Nicht-Hierarchisierer allen wissenschaftlich Denkenden Hierarchie und Machtgeilheit vorzuwerfen beginnen und Wissenschafts- und Denkverbote eingeführt werden.

(23.1.1.1.1.1.1.1.3.1.1) Re: Hierarchie und Wissenschaft, 08.12.2006, 17:03, Benni Bärmann: Wieso glaubst Du, ich wollte Dir Deine Wissenschaft wegnehmen? Du reagierst grad ziemlich angefressen, so kenn ich Dich sonst nicht. Vielleicht belassen wir es einfach mal dabei anstatt uns weiter im Eckenboxen zu üben. Vielleicht noch zum Abschluß: Dass ich hier so viel nachfrage tue ich ja gerade, weil ich euer Projekt spannend finde. Und natürlich hast Du oder habt Ihr alles Recht der Welt da so ranzugehen, wie ihr es für sinnvoll haltet. Wenn ihr das hier semi-öffentlich tut, dann denke ich halt ihr seid interessiert dran andere Perspektiven zu hören und äußere die dann auch.

(23.1.1.1.1.1.1.1.3.1.1.1) Re: Hierarchie und Wissenschaft, 11.12.2006, 21:37, Annette Schlemm: Ich hab mir vorgenommen, nicht mehr immer soooo sehr kompromisslerisch zu sein wie so oft. Manchmal macht ein immer-wieder-Zurückweichen die Position auch nicht klarer. Deshalb hab ich auf der Metaebene das mit dem Ecken-Boxen angesprochen, um es wenigstens auf einer sachlichen Ebene klären zu können und nicht in persönliche Vorwürfe zu kommen. Deine Interventionen sind sehr oft auch sehr hilfreich, aber in diesem Fall weiß ich auch nicht mehr, wie ich inhaltlich reagieren könnte, weil die Differenzen auf einer tieferen inhaltlichen Ebene liegen, als auf der wir uns grad befinden…

(23.1.1.1.2) Alltagsdenken und wissenschaftliches Denken, 16.12.2006, 15:57, Ronny Hirsch: Der Begriff des Alltagsdenkens trifft meiner Ansicht nach nicht das, was in diesen Fall gemeint wird. Der Alltag wird natürlich in wesentlichen Teilen vom nicht wissenschaftliches Denken dominiert, es geht einfach schneller und ist auch effektiver. Alte Erfahungen die funktuionieren, funktionieren auch weiterhin – auch ohne sich darüber wissenschaftliche Gedanken machen zu müßen. Aber trotzdem ist das wissenschaftliche Denken im Alltag natürlich nicht ausgeschloßen, im Gegenteil, z.B. die Hausfrau, die ihre Arbeiten effektivieren will kann durchaus wissenschaftlich an die Sache herran gehen! (der wissenschaftliche Denkprozeß wäre übrigens auch ein eigenes Thema wert) Auch wenn sich im Laufe der Zeit die Wissenschaft zur Institution entwickelte, sich die Methoden der Wissenschaft spezialisiert haben und Alltagsuntauglich geworden sind – die wissenschaftliche Herrangehensweise, an welche Probleme auch immer, ist im Alltag durchaus möglich. –> Die Unterscheidung der beiden Denkweisen an sich halte ich also für richtig aber an den Begriffen müßte gefeilt werden.

(24) Die Widersprüchlichkeit dieser „ideologischen“ Denkformen zeigt sich vor allem darin, dass

* sie einerseits Oberflächenerscheinungen vom Wesen trennen und als das Wahre nehmen – und andererseits auch in diesen Erscheinungen das Wesen – allerdings nicht in trivialer Weise ersichtlich – erscheint;
* die Menschen gleichzeitig Subjekte sind (indem sie es sind, die die Gesellschaft reproduzieren) und es gleichzeitig nicht sind (indem sich das von ihnen Geschaffene gegen sie verselbständigt) und
* diese Denkformen einerseits durch die gesellschaftlichen Verhältnisse vorherbestimmt sind aber andererseits aktiv reproduziert werden müssen, um wirksam zu werden. (sie sind nicht lediglich aufgezwungen).

(24.1) 26.11.2006, 19:54, Annette Schlemm: Her bricht mein Text ab, weil ich einfach noch nicht weiter bin… Diese letzten Punkte sind im Prinzip nur „Merkzettel“ für jene Probleme, die hier an dieser Stelle auf uns zukommen…

Literatur

(25)
Bärmann, Benni (2006): Wirbel und mentale Modelle. Internet http://www.aymargeddon.de/laboratorium/index.php/Bedeutungswirbel#Wirbel_und_mentale_Modelle. (2006-11-19)
Hawking, Stephen (2001): Die illustrierte kurze Geschichte der Zeit. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Johnson-Laird, Phil; Byrne, Ruth (2000): Mental Models Website: http://www.tcd.ie/Psychology/Ruth_Byrne/mental_models/
Kuhn, Thomas S. (1999): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (Erstauflage 1962)
Narski, Igor S. (1973): Dialektischer Widerspruch und Erkenntnislogik. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften.
Renn, Jürgen (2006): Auf den Schultern von Riesen und Zwergen. Einsteins unvollendete Revolution. Weinheim: Wiley-VCH-Verlag. Kapitel 1 online (PDF): http://www.wiley-vch.de/templates/pdf/352740595X_c01.pdf
Röseberg, Ulrich (1984): Szenarium einer Revolution. Nichtrelativistische Quantenmechanik und philosophische Widerspruchsproblematik. Berlin: Akademieverlag.
Scharping, Michael (Hrsg.) (2001): Wissenschaftsfeinde? „Science Wars“ und die Provokation der Wissenschaftsforschung. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Wikipedia (Mentales Modell): http://de.wikipedia.org/wiki/Mentales_Modell#Das_Mentale_Modell. (2006-11-19)
Wikipedia (nichtmonotone Logiken): http://de.wikipedia.org/wiki/Logik#Nichtmonotone_Logiken. (2006-11-19)